Jahreswechsel: Die Schönheit des Unfertigen
An Silvester ziehen viele Bilanz und merken: Manches ist unerledigt geblieben. Gut so. Denn nur nach Ergebnissen zu fragen, geht am echten Leben vorbei.

Unvollendetes kann man als Makel sehen – oder als Teil eines Prozesses. © Plainpicture
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An Silvester ziehen viele Bilanz und merken: Manches ist unerledigt geblieben. Gut so
Rainer Maria Schießler, 65, ist katholischer Pfarrer in München. Sein Buch "Liebe – notwendiger denn je!" erschien im Oktober im Kösel-Verlag.
Es gehört zu den stillen Übereinkünften unserer Gegenwart, dass Unfertiges als Makel betrachtet wird. Was nicht klar benannt werden kann, gilt schnell als Schwäche. Wir leben in einer Zeit, die nach Ergebnissen fragt, nach Lösungen, nach eindeutigen Antworten. Ungewissheit wird maximal als Übergangszustand akzeptiert.
Dabei ist das Unfertige nicht die Ausnahme, sondern der Normalzustand menschlichen Lebens. Menschen sind nicht fertig, Beziehungen sind es nicht, Gesellschaften ebenso wenig. Selbst Überzeugungen, die uns tragen, bleiben brüchig, vorläufig, entwicklungsfähig. Und doch behandeln wir Unfertigkeit oft so, als müsse sie möglichst schnell überwunden werden. Wir beschleunigen Urteile, schließen Prozesse ab, bevor sie reifen konnten, und verlangen von uns selbst und anderen eine Klarheit, die dem Leben nicht entspricht.