Warum wir am Jahresende so gerne Bilanz ziehen
Ob Insta-Highlight-Reels oder Journaling: Es wird bilanziert wie nie zuvor. Was in Rauhnächten begann, ist heute ein Mix aus Selbstdarstellung und Achtsamkeit. Warum ziehen wir zu Jahresende so gerne Bilanz? Von Christoph Ohrem.

Von Mystik zum Social-Trend Warum wir am Jahresende so gerne Bilanz ziehen
Stand: 29.12.2025 19:13 Uhr
Ob Insta-Highlight-Reels oder Journaling: Es wird bilanziert wie nie zuvor. Was in Rauhnächten begann, ist heute ein Mix aus Selbstdarstellung und Achtsamkeit. Warum ziehen wir zu Jahresende so gerne Bilanz?
Von Christoph Ohrem, WDR
Manche dürften sich an diesem Jahresende alt gefühlt haben. Denn beim Scrollen durch den Spotify-Jahresrückblick gab es das neue Feature "musikalisches Alter". Wer gern Classic-Rock hört oder die Beatles, war da locker über 60 Jahre alt - selbst wenn das eigene Geburtsjahr mit einer Zwei beginnt.
Für viele ist das musikalische "Wrapped" mittlerweile zum Jahresend-Ritual geworden - ähnlich wie Jahres-Highlight-Reels auf Instagram oder TikTok. Wer es analoger mag, besorgt sich für die persönliche Jahresbilanz ein besonders schönes Heft, in das man, ganz für sich, Gedanken auf das Papier fließen lässt. Modewort dafür: Journaling. Doch woher kommt das Bedürfnis, am Jahresende Bilanz zu ziehen?
Reflexion und Zukunftsschau in Rauhnächten
Jahresbilanzen auf Social Media mögen relativ neu sein, doch das Bedürfnis nach Selbstvergewisserung hat Tradition. Im europäischen Raum etwa in den mystischen Rauhnächten (auch "Raunächte" oder "Rauchnächte") zwischen Weihnachten und dem Dreikönigstag. Die Vorstellung einer besonderen Zeit zwischen den Jahren reicht bis in vorchristliche Zeiten zurück.
"Damit sind viele Rituale verbunden”, weiß Christine Dohler. Die Autorin und Meditationslehrerin hat einige Bestseller über Rauhnächte geschrieben. Besonders beliebt sei auch heute noch das Ritual, 13 Wünsche auf Zettel zu schreiben und davon jede Nacht einen zu verbrennen. "Den Wunsch, der übrig bleibt, nachdem die zwölf Rauhnächte verstrichen sind, darf man sich dann selbst erfüllen."
Der Hang zum Bilanzieren reiche bis in die Gegenwart, wenn auch mit anderen Prioritäten: "Früher ging es bei den Fragen viel stärker um das Überleben, um die Ernte. Wie wird das Leben?", sagt Christine Dohler. Heute gehe es eher darum, sich selbst zu vergewissern, was wichtig sei, was man angehen oder vielleicht ändern wolle. "Das ist eine gute Zeit, um einfach mal auszumisten, im eigenen Zuhause, aber auch im Geist, dass man frisch und klar in das neue Jahr startet."
Digitaler Jahresrückblick als Highlight-Show
Für viele Menschen gehört zum Ausmisten auch eine Jahresbilanz in den Sozialen Medien - unter Hashtags wie #yearinreview oder #recap. Userinnen und User teilen emotionale Momente, perfekt inszenierte Urlaubsbilder, persönliche Meilensteine. Dieser Fokus auf Highlights kann sozialen Druck auslösen. Für Star-Psychologin Stefanie Stahl ergibt sich allerdings ein differenziertes Bild. Man habe auch viele Posts, in denen Menschen eher ihre Ängste, Nöte und Schwächen thematisieren.